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  • Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge III, Vom Heiligen Ludwig zum Sonnenkönig: 34 Werke der Französischen Buchmalerei aus Gotik, Renaissance und Barock, beschrieben von Eberhard König mit Beiträgen von Gabriele Bartz und Heribert Tenschert, Ramsen Antiquariat Heribert Tenschert 2000, S. 441-456.
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  • Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge III, Vom Heiligen Ludwig zum Sonnenkönig: 34 Werke der Französischen Buchmalerei aus Gotik, Renaissance und Barock, beschrieben von Eberhard König mit Beiträgen von Gabriele Bartz und Heribert Tenschert, Ramsen Antiquariat Heribert Tenschert 2000, S. 442.
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Utopia, armarium codicum bibliophilorum, Cod. 102
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Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge III, Vom Heiligen Ludwig zum Sonnenkönig: 34 Werke der Französischen Buchmalerei aus Gotik, Renaissance und Barock, beschrieben von Eberhard König mit Beiträgen von Gabriele Bartz und Heribert Tenschert, Ramsen Antiquariat Heribert Tenschert 2000, S. 441-456.

Handschriftentitel: Stundenbuch, Horae B.M. V. für den Gebrauch von Rom.
Entstehungsort: Bourges
Entstehungszeit: um 1500/10
Katalognummer: 26
Umfang: 248 Blatt Pergament im alten Buchblock, dazu ein Vorsatz im vorderen Deckel mit Papier überklebt, ein fliegendes Vorsatz hinten in Pergament, vielleicht aus der Entstehungszeit, sowie vier Blätter Papier, davon eines als festes Vorsatz hinten.
Format: Oktav (180 x 115 mm)
Lagenstruktur: Gebunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, unabhängig von den Textarten, auch der Kalender in dieses System integriert; abweichend nur die erste Lage, die aus dem Doppelblatt fol. 2-3 besteht, dem fol. 1 vorgeschaltet ist, sowie Lage 16 (6) mit der Zäsur vor den Bußpsalmen und die Abschlußlage 32, in der ohne Textverlust das zweitletzte Blatt zwischen fol. 247 und 248 herausgelöst wurde.
Zustand: Vollständig und blendend gut erhalten.
Seiteneinrichtung: Durchgehend, auch der Kalender zu 15 Zeilen. Textspiegel: 123 x 62 mm
Schrift und Hände: Der Kodex ist großzügig in schmalem steilen Textspiegel mit großem Abstand zwischen den einzelnen Zeilen in einer gut lesbaren Bastarda von zwei unterschiedlichen Schriftgrößen geschrieben worden.
Buchschmuck: Insgesamt 64 Bilder, in 52 Bildfeldern, davon 13 Großbilder über drei Zeilen Text mit dreizeiligen glyptischen Initialen in den Kompartiment-Bordüren, 27 sechszeilige Bilder im Textspiegel mit Bordürenstreifen außen, die von genau beobachteten Blütenpflanzen bevölkert sind; 12 vierzeilige Bilder in voller Textspiegelbreite mit je zwei Miniaturen und dazu Kompartiment-Bordüren als Streifen außen. Die zweizeiligen Initialen in prächtigem Akanthus auf farbigen oder goldenen Flächen mit Blüten. Die einzeiligen Zierbuchstaben in Pinselgold auf unregelmäßig wechselnden roten, braunen und blauen Flächen. Versalien nicht besonders getönt.
  • Schriftdekor

    Der relativ moderne Charakter der Schrift äußert sich beispielsweise darin, daß man die gelbe Lavierung, die in Frankreich in solchen Fällen üblich war, völlig ausgelassen hat. Die Palmenverse setzen jeweils am Zeilenbeginn ein, so daß Füllstreifen fast überall nötig sind; diese werden in der gleichen Weise mit einfarbigen Buntflächen, harter schwarzer Konturierung und Pinselgold-Dekor ausgeführt wie die einzeiligen Buchstaben, verfügen allerdings über Grün als weitere Farbe. Die einzeiligen Buchstaben sind groß, behäbig und, wie in Paris seit dem späten 15. Jahrhundert üblich, als querliegende Rechtecke gebildet.

    Zu einem anderen Dekorationssystem gehören die zweizeiligen Buchstaben, die auf farbigen Gründen oder Pinselgold liegen. Sehr kraftvoll modelliert, mit starken Schatten und heftiger weißer Höhung stellen sie eine besondere Familie dar, auch wenn die beigesellten Blütenzweige an die ältere Pariser Buchmalerei des ausgehenden 15. Jahrhunderts denken lassen.

    Die Bordüren sind hochinteressant. Das gilt schon für die schmalen Streifen im Kalender, die mit kraftvollen Farben zu den besonders schönen Beispielen des in Frankreich seit der zweiten Hälfte des 15.Jahrhunderts beliebten Kompartiment-Dekors gehören. Dabei kann auf den Text angespielt werden, wenn beispielsweise zum Weinmonat Oktober als blaues Kompartiment aus der Bordürenmitte eine Weinkanne ausgespart ist. Ähnlich gestaltet ist der Randschmuck zu den Bildseiten: er wartet mit glühenden Farben auf, die Qualität und stilistische Eigenarten mit den Hauptminiaturen teilen; bei der Kreuz-Matutin wird mit den Kompartimenten auf das Heilszeichen verwiesen.

    Das schönste Beispiel dieser Bordüren, zu Beginn des Marien-Offiziums, geht allerdings über die herkömmliche Disposition der Kompartimente deutlich hinaus: Dort wechseln Pinselgoldpartien mit farbigen ab; auf dem Gold liegen mit kraftvollen Schatten davon abgehoben Blumenzweige, naturalistisch klar erkennbar eine Rose mit Libelle, Maßliebchen, Lilien und andere Blumen. Die farbigen Gründe hingegen sind durch krispes goldenes Akanthusblatt geschmückt, das sich durch Schattierung lebendig vom Grunde abhebt.

    Die naturalistischen Blüten führen zu einer splendiden Eigenart dieses Kodex: 32 reine Blumenbordüren sind den Kleinbildern beigesellt: Die Blumenfolge zeigt botanisch zutreffend und gut erkennbar: blaue und weiße Veilchen (fol. 20), Krokus (fol. 21[22r]), Herbstzeitlose (fol. 22), Narzissen (fol. 24), Brombeere (fol. 26v), rote Rose und weiße Lilie (fol. 28), Bartnelke (fol. 210), rote Nelke (fol. 210v), Klatschmohn (fol. 211v), Eisenhut oder Rittersporn (fol. 212v), Akelei (fol. 213v), vielleicht Glockenblume (fol. 216v), Lichtnelke (217v), Vergißmeinnicht (fol. 218 und 219v), Bartfaden (fol. 219), Erdbeere mit Blüten und Früchten (fol. 221v), Kamille oder Margerite (fol. 223), Kornblume (fol. 224), Vergißmeinnicht und vielleicht Wicke (fol. 224v), Nelke (fol. 225v), Kornblume oder Wegerich (fol. 227), vielleicht Goldlack (fol. 228), Bleiwurz oder Immergrün (fol. 229), vielleicht Orangenblüten (fol. 230), Ackerwinde (fol. 231), Vergißmeinnicht und Fingerhut (fol. 232), Boretsch (fol. 233) und Heckenrose (fol. 238v).

  • Die Bildfolge

    fol. 2: Jedem Monat im Kalender ist ein vierzeiliges Bildfeld in der Breite des Textspiegels vorausgeschickt. Obwohl die Eingangsverse zu den Monaten den Jahreslauf mit dem Leben des Menschen von Jugend bis Tod gleichsetzen, bleibt es bei der üblichen Ikonographie: Bei einer Teilung im Verhältnis von 3 zu 1 enthalten die breiteren Bildräume den gewohnten Zyklus der Monatsarbeiten, während das schmale Feld rechts für das Tierkreiszeichen ausreicht. Vom Format her bot sich an, die Genreszenen halbfigurig darzustellen, während die menschlichen Gestalten zu den Tierkreiszeichen ganzfigurig und damit in erheblich größerer Distanz erscheinen.

    Die Genreszenen sind von ungewöhnlichen Beobachtungen belebt: Der Mann am Speisetisch unterhält sich mit einem Jüngling, während von hinten Brennholz hereingetragen wird (fol. 2); der Mann mit einem Baumstamm in der Hand wendet sich zu einem anderen um, der friert (fol. 3v); beim Beschneiden der Weinstöcke trinkt ein Bauer (fol. 5); vom vornehmen Falkner wendet sich ein junger Mann mit einem Stock ab (fol. 6v); beim Spaziergang schreitet ein vornehmes Paar durch den Wald, der bruchlos in das nächste Bild weiter geht, wo sich hinter Büschen das nackte Paar der Zwillinge versteckt (fol. 8); Schafschur (fol. 9v); Heumahd mit Jüngling, der eine Heugabel hält (fol. 11); Kornmahd (fol. 11v[12v]); zwei Männer beim Dreschen (fol. 14); Weinkelter (fol. 16[15v]); Schweinehirt (fol. 17); Abbrennen der Borsten beim Schweineschlachten (fol. 18v).

    Die Tierkreiszeichen erscheinen zum Teil in anmutigen Landschaften, nur die Zwillinge sind, wie schon erwähnt, ins Panorama des Genrebildes integriert: Wassermann als kleiner Engel, der eine Kanne ausgießt: drei Fische; ein Lamm, kein Widder, vor einer noch wenig belaubten Landschaft; der Stier; die Zwillinge; der Krebs in einem Wasser; der Löwe vor einem Felsen; die Jungfrau mit zwei Palmwedeln; die Waage, von einem Mädchen gehalten, der Skorpion vor kahlen Bäumen; der Schütze als Kentaur, wieder vor dichtem Buschwerk; der Steinbock.

    fol. 20: Halbfiguren in Kleinbildern eröffnen auch die Perikopen und das anschließende Marien-Gebet; um die Figurengröße im gesamten Textblock des Stundenbuchs gleich zu halten, sind auch Halbfiguren den Suffragien vorausgeschickt. Johannes mit einem Blick auf das Wasser, das die Insel Patmos nun nicht mehr voll umschließt, den Adler neben sich (fol. 20); Lukas an einem Schreibpult, hinter dem sich der Stier versteckt (fol. 22); Matthäus am gleichen Schreibpult, sich zum Engel umwendend, der ein aufgeschlagenes Buch vor der Brust hält (fol. 24); Markus an einem flachen Pult schreibend, auf das der Löwe die Tatzen legt, mit Ausblick auf ferne Landschaft (fol. 26v).

    fol. 28: Maria mit dem Kind vor Ehrentuch und fast schulterhohem Mäuerchen mit Blick in die Ferne, asymmetrisch nach links gerückt, damit das Kind einen Engel an der Stirn berühren kann, der auf der Laute spielt.

    fol. 34: Der Zyklus zum Marien-Offizium läßt den Kindheitszyklus in einem Bilde des Marientodes enden. Dabei spürt man die Neuerungen einer aus Italien nach Frankreich gekommenen Bildkultur der Renaissance:

    Die Marienverkündigung (fol. 34) spielt in einem Raum, der durch Renaissancesäulen einen schönen Landschaftsblick eröffnet. Der Engel, in eine golddurchwirkte Dalmatika gekleidet, kniet links vor Maria, die vom Gebetbuch zu Gabriel hinüberblickt. Zwischen beiden steht eine schöne Lilienvase; an der Wand hinten ist mit Bändern eine tabula ansata angebracht, die in Goldbuchstaben den Gruß des Engels und die Antwort der Jungfrau als Inschrift trägt, auf dem Baldachin hinter der Jungfrau steht O Mater Dei

    Bei der Heimsuchung (fol. 49) ist Maria von links über den Hügel gekommen, während ihr Elisabeth aus einem mit schönen Renaissance-Ornamenten geschmückten Steinhaus entgegentritt, um ihr die Hand zu geben.

    fol. 67: Die Heilig-Kreuz-Horen eröffnen mit der Kreuztragung, bei der das Marterwerkzeug sehr plastisch das Bild prägt. In einer Tradition, die vom Boucicaut-Meister herrührt und von Fouquet weiter gepflegt wurde, zieht sich der Zug von einem Stadttor links nach vorn; dessen Architektur hinterfängt Maria und Johannes. Christus erscheint vorn, die Füße auf dem Bildrand. Die späte Zeitstellung der Miniatur erkennt man an der Tatsache, daß die Soldaten eine isokephalische Reihe bilden, die starr und ohne Bewegung en face gezeigt wird. In der Bordüre sind Kreuze als Goldkompartimente ausgespart; sie wechseln mit Herzen, in deren Mitte die grüne Dornenkrone das IHS-Zeichen umkränzt.

    fol. 69: Bei der Ausgießung des Heiligen Geistes, dem Erkennungsbild zu den Horen des Heiligen Geistes, bestimmen Maria und Petrus als Hauptfiguren die Szene; die Muttergottes erscheint im Gegensinn vor ihrem schon aus dem Verkündigungsbild bekannten Buchpult. Das Prinzip der Isokephalie führt dazu, daß die Apostel erheblich kleiner wirken als Maria. Die Architektur erinnert an die Zentralräume von Colombe und Bourdichon; sie wird durch Goldstrahlen und feurige Flämmchen fast ganz verdeckt.

    fol. 71: Wie üblich folgt nun im Marienzyklus die Anbetung des Kindes; es ist wie bei Jean Pichore auf eine Krippe aus geflochtenen Weiden gelegt, die an einen Säulenstumpf erinnert. Maria kniet über das nackte Kind gebeugt, das sie auf ein weißes Tüchlein, einer Hostie gleich, gebettet hat. Ochs und Esel kommen mit ihren Schnauzen dem Knaben sehr nahe. Joseph, ein Mann im besten Alter, bringt von rechts eine Laterne in das ansonsten taghell beleuchtete Geschehen und äußert mit der Rechten sein Erstaunen, während von hinten durch eine schadhafte Wand des Stalls drei Hirten hereinschauen. Unter ihnen ist in goldenen Lettern der Anfang der Weihnachtsmesse Puer est natus vobis eingetragen.

    In einer schönen lichtdurchfluteten Landschaft spielt die Hirtenverkündigung (fol. 78), die in klarer Symmetrie zwei hockende Hirten um einen stehenden gruppiert; dieser schaut im Profil auf zum Engel, der in der Bildmitte oben das Gloria verkündet. An seine Erscheinung ragt fast die prächtige Burganlage heran, die auf einem mit Wiesen überzogenen Berg in der Mitte sich erhebt.

    Bei der Anbetung der Könige (fol. 84) trifft sich der Sinn für Renaissance-Architektur in der steinernen Ruine mit der Faszination für prächtige Gewänder und der neuen Tendenz, Joseph als jungen Mann darzustellen, so, als habe man ein ferraresisches Tafelbild vor sich.

    Einem Entwurf Jean Bourdichons folgt die Darbringung im Tempel (fol. 90), bei der der jugendliche Joseph allerdings eine ungewohnte Rolle übernimmt, denn er bringt das Körbchen mit drei Tauben und die brennende Kerze. Maria kniet als Hauptfigur vorn, Simeon mit seinem mächtigen Priesterhut hat das Kind bereits auf den Armen, das mit den Fingerchen der linken Hand zum Mund faßt. Wie aus Darstellungen der Flucht nach Ägypten in den Tempel übernommen wirkt die Bildsäule über Maria, deren Götze gerade zerspringt.

    Das Motiv des Götzen auf der Säule kehrt in der Flucht nach Ägypten wieder (fol. 96), allerdings mit intaktem Götzen. Auf einem gut beobachteten Esel, den der jugendliche Joseph führt, reitet Maria nach links; im Hintergrund erkennt man Soldaten in Rüstung, die die Heilige Familie verfolgen; sie stammen aus dem sogenannten Kornwunder, das hier im Bild nicht ausformuliert ist.

    Die Abschlußszene dieses Zyklus ist der Marientod (fol. 109), ein recht seltenes Motiv im Marien-Offizium; man meint das auch am Bild selbst erkennen zu können: In einer prächtigen Renaissance- Architektur, die links hinten angedeutet ist, steht das rot ausgeschlagene Bett, auf dessen Baldachin oben Obitus. B. Marie geschrieben steht. In viel zu kühner Verkürzung erblickt man die Bettfläche, auf die Maria in ihrer hier üblichen Kleidung, dem grauvioletten Untergewand und dem blauem Mantel mit weißer Haube gelegt ist. Sie hat die Augen offen, die Hände zum Gebet gefügt, während Petrus in weißem Gewand mit der Sterbekerze in der Hand ihr Haupt berührt. Von rechts drängen die Apostel, angeführt von einem, der einen Kreuzstab hält, während zwei weitere Apostel, darunter wohl Johannes, links neben dem Bett knien bzw. stehen.

    fol. 122: Wie in gedruckten Stundenbüchern häufig, in Handschriften aber außerordentlich selten, ist den Bußpsalmen die wenig sprechende Szene des Uriasbriefs aus der Erzählung von David und Bathseba vorausgeschickt: In einem Thronsaal, der durch ein hoch gelegenes Fenster hinten den Blick in die ferne Landschaft bietet, sitzt rechts vorn unter einem blauen Baldachin David, dessen drei Ratgeber sich in geraumer Entfernung hinten halten. Der König reicht einem vornehmen jungen Mann einen Brief; in diesem Schreiben, das der kniende Uria seinem Heerführer Joab überbringen soll, ordnet der König an, der Bote möge in der nächsten Schlacht so plaziert werden, daß er den Tod findet.

    fol. 145v: Das Toten-Offizium ist in dieser reich geschmückten Handschrift mit zwei Bildern versehen: Zur Vesper ist aus der Geschichte des Reichen und des armen Lazarus das Festmahl dargestellt: Links in der durch eine Säule asymmetrisch geteilten Komposition sitzt der reiche Mann mit seiner Frau am Tische, während vom rechten Bildrand stark überschnitten der mit Schwären verunstaltete Arme auftaucht, dessen Knie ein Hund leckt. Diese Geschichte gehörte zu den wichtigsten Parabeln, die man sich angesichts von Tod und Höllenstrafe vergegenwärtigte (vgl. die mit der Höllenszene verbundene Darstellung des Dresdner Gebetbuchmeisters, in Leuchtendes Mittelalter Neue Folge II, Nr. 30).

    Zur Matutin des Toten-Offiziums erinnert Hiob auf dem Dung (fol. 156), der mit seinen drei Freunden diskutiert, an die Haupttexte, die nun folgen; es sind neun Lesungen aus dem Buch Job. Der Dulder, mit einem Heiligenschein versehen, nimmt die linke untere Ecke der Komposition ein; von rechts schieben sich seine prächtig gekleideten Freunde ins Bild. Hinter Hiob steigt eine schwärzlich düstere Ruine auf, während sich über den Freunden ein besonders schöner felsiger Burgberg mit prächtigen Befestigungsanlagen in den von Wolken durchzogenen Himmel erhebt.

    fol. 210: Die Suffragien werden mit kleinen Halbfigurenbildern eröffnet: Die Trinität, bestehend aus dem mit Tiara gekrönten Gottvater, Christus und der vor einer Regenbogen-Aureole schwebenden Taube, vor Himmelblau (fol. 210); Gottvater in einer Regenbogen-Aureole mit Sphaira, segnend, von roten und blauen Engeln umgeben (fol. 210v); Christus vor Pilatus (fol. 211v); die Ausgießung des Heiligen Geistes mit Maria als zentraler Gestalt unter der Taube (fol. 212v); eine dreifigurige Kreuzigung, bei der Maria ganz ins Bild gerückt ist, während Johannes vom Rand abgeschnitten wird, eröffnet das Stabat mater ungewohnt textgerecht (fol. 213v); Michaels Drachenkampf (fol. 216v); Johannes der Täufer mit dem Lamm (fol. 217v); Johannes der Evangelist mit dem Kelch, über dem ein Drache erscheint (fol. 218); Jakobus mit Pilgerstab und Buch (fol. 219); Sebastians Pfeilmarter (fol. 221v); Adrian als vornehmer Ritter mit Schwert, Amboß und Hammer (fol. 223); der Bischof Nikolaus, der drei Knaben im Bottich segnet (fol. 224); Antonius mit Glöckchen und Buch vor einer Einsiedelei (fol. 224v); der Bischof Claudius mit dem Kreuzstab vor einer Renaissancewand (fol. 225v); Maria lernt bei Anna lesen, vor einer Renaissancewand mit Blick in die Ferne (fol. 227); Magdalena in prächtigem Gewand mit Turban, das Salbgefäß in der Hand (fol. 228); Katharina, gekrönt, in Hermelinkleid mit Schwert, Buch und Palmwedel (fol. 229); Barbara vor ihrem Turm mit drei Fenstern, die der Legende nach auf die Trinität hinweisen (fol. 230); Margareta, im Gefängnis aus dem Rücken des Teufelsdrachens dringend (fol. 231); Genovefa vor einer Renaissancewand, im Buch lesend, während Engel und Teufel um das Licht ihrer Kerze kämpfen (fol. 232); Apollonia mit dem Zahn in der Zange (fol. 233).

    fol. 238v f: Zum abschließenden Mariengebet, das mit dem entsprechenden Bericht des Lukas beginnt, wird das Wesentliche aus der Verkündigungsszene von fol. 34 noch einmal wiederholt: Der Engel senkt das Haupt etwas tiefer; die Taube ist kleiner; Buchpult und Lilienvase fehlen.

  • Zum Stil

    Die Handschrift ist einheitlich von einem vorzüglichen französischen Renaissancemaler ausgemalt. Die wichtigsten Eigenschaften dieses Künstlers lassen sich an der Eingangsminiatur zum Marien-Offizium am besten charakterisieren: Mit der sogenannten glyptischen Initale, die man seit Fouquet und der Jouvenel-Gruppe kennt, wird ein bedeutendes Motiv italienischer Schriftgestaltung zitiert. Daneben steht die einzeilige Pinselgoldinitiale Pariser Tradition.

    In der Bordüre evoziert der Gegensatz der farbigen Kompartimente zum Pinselgold ebenfalls die hauptstädtische Buchmalerei Frankreichs, zu der auch der systematisierende und stilisierende Trend bei der Wiedergabe der Blumen paßt. Allerdings hat man aus Flandern nicht nur die große Libelle, sondern auch den Einsatz markanter Schatten übernommen, die den Eindruck erwecken sollen, die Zweige lägen plastisch auf dem Grund, als habe man sie auf die Buchseite gestreut. Ähnlich heben sich auch die kleinteiligen Akanthusformen ab. Ihre ungemein reiche Konturierung und die gelungene plastische Durchbildung gehen wohl auch auf flämische Beispiele seit der Zeit des Meisters der Maria von Burgund zurück.

    Wie eigentümlich verschiedene Traditionen hier einander im Wortsinne überschneiden, zeigt das Verhältnis der Miniatur zur Bordüre: Der Randschmuck ist prinzipiell in den üblichen rechteckigen Bahnen konzipiert, die man zu rechteckigem Textspiegel und diesem eingepaßten Miniaturen braucht. Aus Pariser Tradition jedoch wird das Bildfeld oberhalb der Textspiegelgrenze durch einen Bogen fortgesetzt; dieser liegt plastisch über dem Goldgrund der Bordüre; zwischen Miniatur und Randdekor ergibt sich ein höchst ungewöhnliches Restfeld von Pergamentgrund. Dabei umgibt das Bild ein breiter schwarzer Rand, während die Bordüre noch einen Ansatz von Beleuchtung von links oben hat, ist sie doch nach außen links und oben rot, rechts und unten jedoch schwarz umrandet, während nach innen diese Linien umgekehrt gefärbt sind, wobei das Rot die Lichtseite und das Schwarz die Schattenseite charakterisiert.

    In der Miniatur wirkt einerseits die Tradition seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts nach, wie sie schon durch den Boucicaut-Meister verkörpert war. Die Figuren haben aber erheblich an Volumen gewonnen, ihre Bewegungen sind stark artikuliert. Gotisches Beiwerk hat völlig einer soliden Renaissance-Mode Platz gemacht. Das gilt für die kräftig modellierte Truhe, die als Buchpult dient ebenso wie für die Kandelaber-Vase, die die Lilien hält. Phantastische Formen hat sich der Maler für die Säulchen ausgedacht, die den Landschaftsausblick unterbrechen. Die tabula ansata ist noch bei Raphaels Madonna di Foligno im Vatikan ein neues und erklärungswürdiges Motiv aus der Antike; in französischer Buchmalerei kommt sie außerordentlieh selten vor.

    Bei der Modellierung und der Gestaltung der Gesichter spürt man schließlich den Einfluß des Meisters der Claude de France (vgl. hier Nr. 27), wie er beispielsweise in den schönen Einzelblättern in Paris, Ecole des Beaux-Arts, M. 94 und 95, besonders klar zutage tritt. Aus einer älteren Tradition der Buchmalerei in Tours, wo man sich den Meister der Claude tätig denkt, stammen auch die prachtvollen Blumenbordüren, die den besonderen Stolz unseres Stundenbuchs ausmachen; denn Jean Bourdichon hat schon um 1503/06 Bände wie die Grandes Heures der Anne de Bretagne mit einem wahren Herbarium in den Randleisten ausgestattet; in diese - nur ganz selten geübte - Tradition stellt sich auch unser Kodex.

    Doch ist die Handschrift vom Kalender her so schlüssig auf Benutzung in Bourges eingerichtet, daß auch ihr Buchmaler eher dort zu suchen ist: In der Tat fügt sie sich vom heftigen Kolorit und der Figurenbildung mit den Gesichtern gut ins Werk des imponierenden Meisters ein, den Nicole Reynaud nach dem Boethius für Jean Lallemant den Älteren, gest. 1533, bestimmt. Dieses Manuskript, heute lat. 6643, das eine französische Versübersetzung neben dem Urtext enthält, entstand laut Kolophon am 15. März 1497, also 1498 Neuen Stils. Die Neigung zu dunklem Rot und überhaupt forciert kräftigen Farben kehrt in den sieben Miniaturen des Pariser Kodex ebenso wieder wie der Sinn für weite Himmelsräume und Landschaft, insbesondere mit rundlich aufgetürmten Hügeln.

    Deshalb wird man das Stundenbuch dem Meister des Lallemant-Boethius zuschreiben können: Es ist ein wichtiges Beispiel der Buchmalerei in Bourges an der Schwelle zur Renaissance. Mit der Verbindung zur Familie Lallemant ergibt sich zugleich ein Bezug zu König Ludwig XII., der in den Jahren um 1500 unter anderem mit Unterstützung des Kardinals Georges d' Amboise in Blois an der Loire seine große Bibliothek aufbaute. Guillaume Lallemant, der ebenfalls unseren Künstler beschäftigte, war dessen Argentier; er hatte Zugang zu den besten Meistern seiner Zeit, darunter Jean Poyet, der für ihn später ein monumentales Missale (Morgan 495 in New York) ausmalte.

  • Aus einer entscheidenden Phase an der Schwelle zur Renaissance stammt dieses Stundenbuch mit seinen Miniaturen vom Meister des Lallemant-Boethius, das sich mit Werken von Jean Bourdichon, aber auch mit flämischer Buchmalerei der Zeit zu messen versucht. Es ist vollständig und in einem wunderschönen Einband erhalten.
Einband: Gebunden in einen noch intakten braunen Maroquinband des frühen 17. Jahrhunderts, die Deckel mit reichster Semé-Vergoldung aus fleur-de-lys, dazu umlaufende Dentellen. Der Rücken mit identischer Dekoration zwischen den erhabenen Bünden.
Hauptsprache: Lateinisch und Französisch
Inhaltsangabe:
Stundenbuch, Horae B.M. V. für den Gebrauch von Rom.
Lateinische und französische Handschrift in Schwarz, Rot und Blau auf Pergament, in Bastarda.
  • fol. 1 Ursprünglich leer, heute mit Livre de raison der Agnes le Dieu.
  • fol. 1v Kalender, eingeleitet mit jeweils vier Versen, die auf acht Zeilen eingetragen sind und durch das Jahr und das Leben des Menschen führen. Die Monatsanfänge, anders als in den meisten Stundenbüchern üblich, nicht zu Beginn eines jeden Recto, sondern regelmäßig am Seitenbeginn jeder vierten Seite, damit auf Recto und Verso wechselnd, mit fol. 2 beginnend. Die Heiligen in französischer Sprache, jeder Tag besetzt, einfache Tage in Schwarz, Heiligen- feste in Blau. Die sogenannte Goldene Zahl in Rot, die einfachen Sonntagsbuchstaben b-g in Schwarz, die Sonntagsbuchstaben A in Pinselgold auf roten, blauen und braunen Flächen. Die Heiligenauswahl schwer zu identifizieren, im wesentlichen auf Bourges weisend: Guillelmus (Fest 10.1.), Sulpicius (Fest 17.1.), Laurianus (5.7.), Turianus von Dole (13.7.), Mammetis (17.8.), Ursinus (Fest 29.12.).
  • fol. 20 Perikopen: Johannes als Suffragium (fol. 20), Lukas (fol. 22), Matthäus (fol. 24), Markus (fol. 26v).
  • fol. 28 Mariengebete, für einen Mann redigiert: Obsecro te (fol. 28), Ave domina sancta Maria (fol. 33).
  • fol. 34 Marien-Offizium secundum usum Romane curie mit Horen des Heiligen Kreuzes und Heiliges Geistes: Matutin (fol. 34), Laudes (fol. 49), Kreuz-Matutin (fol. 67), Geist-Matutin (fol. 69), Marien-Prim (fol. 71), Terz (fol. 78), Sext (fol. 84), Non (fol. 90), Vesper (fol. 96), Komplet (fol. 109), Anhang zum Marien-Offizium mit Salve regina (fol. 116v), und weiteren Texten.
  • fol. 121v leer.
  • fol. 122 Bußpsalmen mit Litanei (fol. 139), die karge Heiligenauswahl wenig charakteristisch, ohne Hinweis auf Bourges: Nicasius unter den Märtyrern, Remigius an zweiter Stelle, Hilarius als letzter der Bekenner, Radegundis vor Genoveva und Opportuna am Ende der Jungfrauen.
  • fol. 145[145v] Toten-Offizium: Vesper (fol. 145v), Matutin (fol. 156), Laudes (fol. 191v).
  • fol. 210 Suffragien: Trinität (fol. 210). Gottvater (fol. 210v), Gottsohn (fol. 211v), Heiliggeist (fol. 212v), Maria (fol. 213[213v]: Stabat mater, als Suffragium), Michael (fol. 216v), Johannes derTäufer (fol. 217v) Johannes Evangelist (fol. 218) Jakobus der Ältere (fol. 219), Christophorus (fol. 219v), Sebastian (fol. 221v) Adrian (fol. 221[221v]), Nikolaus (fol. 224), Antonius (fol. 224v), Claudius (fol. 225v), Anna (fol. 227) Magdalena (fol. 228), Katharina (fol. 229), Barbara (fol. 230), Margareta (fol. 231), Genovefa (fol. 232), Apollonia (fol. 233), alle Jungfrauen (fol. 234), alle Heiligen (fol. 235).
  • fol. 236v Die sieben Gebete des Heiligen Gregor: O domine ihesu Christe adoro te in cruce pendentem.
  • fol. 238v Mariengebet: Missus est Gabriel Textende fol. 248v, ab fol. 248v leer, fol. 249v Angaben von 1573 bis 1618.
Entstehung der Handschrift:
  • Bourges, um 1500/10: Meister des Lallemant-Boethius.
  • Ein vollständig erhaltenes Beispiel aus der Spätzeit des französischen Stundenbuchs in einer schönen Schrift, mit wunderbaren gemalten Initialen, ganz gleichmäßig von einem der bedeutenden Maler aus der Endzeit der französischen Buchmalerei illuminiert. In seinem Stil wirkt der Meister der Claude de France nach; in den Randstreifen zu den Kleinbildern wetteifert er mit Jean Bourdichon, der lebensechte Pflanzenbilder als Randschmuck in den Grandes Heures der Anne de Bretagne und anderen Hauptwerken auf eine recht ähnliche Weise eingesetzt hatte. Es wird sich um den in den Konturen seines Werks gerade erst erkannten Meister des Lallemant-Boethius handeln.
Provenienz der Handschrift:
  • Zahlreiche schwer lesbare Hinweise auf frühere Besitzer; davon das im Innendeckel zu findende Livre de raison durch ein Papier überklebt, welches zweimal die Jahreszahl 1733 und, in anderer Tinte, den Eintrag Fillon, Etudiant en Droit trägt. Auf fol. 1 Livre de raison mit dem Eintrag: Ces presentes heures apartiennent a Agnes le dieu famme de monsieur jean jeanneson admiral a unstel (?) […] 1605. Die übrigen Eintragungen bis 1618 schwer lesbar.
  • fol. 1v: Eine griechische Gottesanrufung und ein getilgter Eintrag: heures a la - unleserlich - Claude […] grande;
  • fol. 249v: Mehrere Angaben mit den Jahreszahlen 1573, 1617, 1574 und 1578 schwer lesbar.
Bibliographie:
  • Den Lallemant-Boethius hat Reynaud vorgestellt in: Avril und Reynaud, Ausst.Kat. 1993, S. 346 f., sowie zum Meister der Claude de France S. 319-323, vor allem Abb. S. 320.