Bern, Burgerbibliothek, Cod. 88
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Homburger, Otto: Die illustrierten Handschriften der Burgerbibliothek Bern. Bd. 2. (Bern, um 1960) [unpubliziertes Typoskript]. Redigiert von Florian Mittenhuber, Juli 2014.

Handschriftentitel: Germanicus: Aratea
Entstehungsort: Frankreich: St. Bertin
Entstehungszeit: Anfang 11. Jh. (vor 1028)
Beschreibstoff: Sprödes, gut geglättetes, stellenweise narbiges Pergament (Ziege) mit Fehlstellen an den Rändern.
Umfang: 11 Blätter
Format: 37 x 28,5 cm
Seitennummerierung: Moderne Foliierung: 1–11, jeweils auf dem recto und verso.
Lagenstruktur: (IV-2+1)7 + II11. Zwei Lagen: Lage 1 war ursprünglich ein Quaternio, dessen innerstes Doppelblatt heute verloren ist (aber von Bongars noch gelesen wurde, vgl. seine Abschrift der Marginalien in Cod. 492, f. 204r–v); das heute an Lage 1 angeklebte f. 7 war ursprünglich ein einzelnes Doppelblatt, dessen hintere Hälfte heute verloren ist. Lage 2 war vermutlich immer schon ein Binio. – Keine Lagensignaturen.
Zustand: Einige kleinere Reparaturen (20. Jh., nicht dokumentiert).
Seiteneinrichtung: Einspaltig (f. 17) und zweispaltig (f. 811), Schriftspiegel: bei einer Kolonne (innen von drei, aussen von zwei mit Griffel eingeritzten Senkrechten eingefasst) 30 x 11,5 cm, zusätzlich seitlich angeordnete Glosse von 5,5–6 cm; bei zwei Kolonnen 30 x 22,5 (11) cm; jeweils 40 Zeilen; Blindlinierung; Punktierung am Rand.
Schrift und Hände: Karolingische Minuskel; die Anfangsbuchstaben der Verse sind in abwechselnd orangeroter und grüner Unziale geschrieben, ebenso die ersten Buchstaben der einzelnen Scholien. Für die Anfangszeile einer jeden Sternbildbeschreibung ist rote Rustica verwandt, die sich unterscheidet von der mit Rustica gemischten Unziale, in der die Schwesterhandschrift Boulogne-sur-Mer, Ms. 188 (B) geschrieben ist. Dagegen hat der Schreiber des Bernensis die karolingische Minuskel für den Text gewählt, und zwar kehrt hier der für St. Bertin charakteristische Schriftstil wieder, der durch die aufrechten, scharf gewinkelten, sehr regelmässigen Buchstaben, und vor allem durch die langen Unterlängen des r und des mit Punkt versehenen y gekennzeichnet wird; auffällig sind ferner die eigenartigen Ligaturen von est (f. 9rb, letzte Zeile) und ct (f. 9rb, Zeile 1; 9va, Zeile 7), ferner die Kontraktionsstriche in Form einer 2 und einer gotischen 5. - Ein Schreiber, auf f. 1v und 2r sind von einem zweiten Schreiber in dunklerer Tinte Korrekturen des Textes nach einer besseren Vorlage vorgenommen worden.
Buchschmuck: Die Handschrift (Sigle: Be) ist illustriert mit 28 prachtvollen Sternbild-Darstellungen (inkl. Jupiter, Sonne und Mond), je zwei pro Seite, sowie mit einem Planisphärium (Sternbildkarte mit Polar- und Wendekreisen, Äquator und Ekliptik). Bei der folgenden Beschreibung werden die entsprechenden Darstellungen der Vorlagen zum Vergleich herangezogen, nämlich: Leiden, Universitätsbibl., Ms. Voss. Lat. Q. 79 (L) und Boulogne-sur-Mer, Bibl. municipale, Ms. 188 (B). L, B und Be gehören zusammen der Handschriftenfamilie (Z) an.
  • 1v oben: Jupiter.
    Der im Gegensatz zu B bartlos dargestellte, mit gelbem Nimbus ausgezeichnete Gott ist gelagert auf dem Rücken des Adlers, den man sich fliegend zu denken hat. Er hält in der Rechten die gelb kolorierte, von zwei sich kreuzenden Linienpaaren überzogene Weltkugel, mit der Linken das Szepter, das nach oben hin sich verbreitert und in einem roten Knopf endet; wie in B ist der Nabel durch eine sich einrollende Linie charakterisiert. Während der Oberkörper nackt dargestellt ist, sind Hüften, Beine und der linke Ellenbogen von einem grünen Mantel eingehüllt, auf dem die Lichter in schematischer Weise durch gelbe, den schwarzen Faltenlinien parallel laufende Linien und gelbe Punkte, bzw. einen gelben, ausgefüllten Kreis wiedergegeben sind. In seinen Klauen hält der goldbraun gefiederte Adler den rot gezeichneten Blitz, der hier gleichsam zur waagrechten Bodenlinie geworden ist.
  • 1v unten: Grosse/ Kleine Bärin (Ursa maior/ minor = UMa/ UMi) und Drache (Dra).
    Darstellung der Grossen und Kleinen Bärin zwischen den Windungen des Drachens. Sehr bezeichnend ist beim Drachen die Schematisierung der farbigen Schraffuren, die in L noch ihrer ursprünglichen Aufgabe, die Rundung des Drachenleibes zu veranschaulichen, treu geblieben sind. Die braune Farbe der Bären ist von L übernommen.
  • 2r oben: Herkules (Her).
    Die Figur ist in Anlehnung an den Orion und den Bootes in nach rechts gerichteter Bewegung dargestellt, das linke Knie ist leicht gebeugt, der Kopf ist zurückgewandt. Mit der rechten Hand drückt der Jüngling das untere Ende des senkrecht gehaltenen Lagobolon gegen die Hüfte, während er über den ausgestreckten linken Arm das braunrote Löwenfell fallen lässt. Die Extremitäten des erlegten Tieres sind im Bernensis viel weniger geschieden als in B, das Haupt ist überhaupt nicht mehr als Tierkopf charakterisiert. Die Exomis, die die rechte Schulter freilässt, ist zwar in den Umrissformen von L genau übernommen, aber B und Be verstehen nicht mehr die im Sinne der Antike malerische Modellierung der Falten und fügen den zwei senkrechten Borten waagrechte Besatzstreifen hinzu, die in Be den Eindruck eines steifen gelb getönten Gestänges machen. Missverstanden sind ferner die antiken Stiefel: Schon im Leidener Vorbild kaum verständlich ist das bügelförmige obere Abschlussstück, mit dem wohl die überfallenden Laschen gemeint sind; bei B und Be ist vom Schnürstiefel kaum etwas übriggeblieben; jochbogenartig überschneidet in Be das gelb getönte rot eingefasste Stück quer die nackten Beine. Der von einer perückenartigen altertümlichen Frisur umrahmte Kopf mit seiner Innenteilung ist charakteristisch für die Schule von St. Bertin.
  • 2r unten: Nördliche Krone (Corona borealis = CrB).
    Sehr deutlich ist bei diesem Sternzeichen das stufenweise Abgleiten von der verhältnismässig naturgetreuen Wiedergabe des mit einer Schleife geschmückten Lorbeerkranzes (L) über den gleichsam gezackten Kranz von B zu Be zu verfolgen; die Bewegung der Bandenden ist lahm, anstelle des Kranzes sind drei konzentrische Farbstreifen in rot, gelb und rot getreten mit einer schematischen, die Blätter kaum noch andeutenden Innenzeichnung; die drei den Kranz schmückenden Steine sind in beiden Abkömmlingen – da die rundende Tönung der beschatteten Seite nicht mehr verstanden wurde – zu rätselhaften rosa Gebilden geworden.
  • 2v oben: Schlangenträger (Ophiuchus = Oph), auf dem Skorpion (Sco) stehend.
    Die Vereinigung der beiden Sternbilder ist übernommen von L, an die B sich aufs Engste anlehnt, während im Bernensis die männliche Figur das linke Bein weiter vorstellt. Im Gegensatz zur Mutter- und Schwesterhandschrift hat die Schlange, die von den beiden in der Silhouette gegebenen Armen festgehalten wird, aber den Körper des Mannes umschlungen, wie um ihn zu erdrosseln, worin sich eine engere Anlehnung an den Germanicustext und die ursprüngliche bildliche Fassung ausspricht. Be zeigt die für St. Bertin charakteristische Stilisierung und Formgebung, während B auch hierin dem Vorbild L abhängiger gegenübersteht, dessen antikisierende Behandlung des Aktes in beiden Abkömmlingen einer schwächlicheren Art von Schraffierung hat weichen müssen. Das Karnat hat in Be nachgedunkelt; wirkungsvoll ist die modellierende Behandlung des grünen Skorpions mit gelben, weissen, roten und schwarzen Strichen, die gleichsam der Form folgen. Auch in der Stilisierung des Schlangenkopfs zeigt sich ein selbständiges Fortschreiten im Sinne des mittelalterlichen Kunstwollens.
  • 2v unten: Bärenhüter (Bootes = Boo).
    So genannt, weil das Sternbild unter den sieben Sternen der Grossen Bärin erscheint. Dem entspricht die in den drei Handschriften völlig übereinstimmende Stellung der Figur, die, mit der Rechten das Lagobolon schulternd, nach links ausschreitet, aber durch Kopfdrehung und Gebärde des linken Armes sich dem Bären zuwendet. Die hellblaue Exomis, deren Faltung in Be knapper und folgerichtiger geworden ist als im sein Vorbild sklavisch umsetzenden B, ist jeweils auf der rechten Schulter befestigt. Am linken Fuss ist noch ein unverstandener Rest einer Sandalenbindung zu erkennen (bei L und B sind die Füsse nackt).
  • 3r oben: Jungfrau (Virgo = Vir).
    Tierkreiszeichen, dessen Wiedergabe in unserer Handschriftengruppe die älteste und verbreitetste Art der Darstellung repräsentiert. Wenn man das in L nicht mehr erhaltene Bild aufgrund von B zu rekonstruieren versucht, so ergibt sich eine Frauengestalt, die im Gegensatz zur Wiedergabe in Be mit Flügeln ausgestattet ist und das rechte Bein aus dem sich öffnenden Kleid hervortreten lässt. Da aber das Gewand in den Parthenosbildern, die im Tierkreis der Planetarien zu Leiden und Boulogne begegnen, geschlossen ist, so darf angenommen werden, dass unser Maler nicht von sich aus und ohne Vorlage dazu gekommen ist, die Beine der Jungfrau zu verhüllen. Dies umso mehr, als die Gottheiten, deren Bilder bei der Parthenosfigur des Arat Pate gestanden haben (Demeter mit den Ähren, Iris mit dem Kerykeion und die geflügelte Nike), mit geschlossenem Gewand dargestellt werden. Wie in B trägt die Figur im Haar eine Art Diadem, das wohl aus der Lage der beiden einrahmenden Sterne seine Existenz herleitet. Im Gegensatz zu den übrigen rotfarbigen Sternen sind diese beiden gelb getönt, ebenso wie die Abschluss-Säume des Gewandes und die beiden gürtelartigen Borten, von denen die untere möglicherweise im Prototyp das Ende des überfallenden Peplos eingefasst hat. Neben die goldbraune Farbe von Gewand und ‚Haarbeutel‘ tritt das Graugrün des über die linke Schulter geworfenen Mantels; die Ähren, die die Rechte senkt, sind grau; das Kerykeion, das mit dem linken Arm aufrecht getragen wird, ist rot gezeichnet und mit gelber Farbe gefüllt.
  • 3r unten: Zwillinge (Gemini = Gem).
    Der Bernensis gibt, in enger Anlehnung an L und B, die Gruppe von Amphion und Zetos wieder, den Söhnen der Antiope, die im gleichnamigen Stück des Euripides in einem Streitgespräch als Vertreter zweier Weltanschauungen, der vita contemplativa und der vita activa einander gegenübergestellt worden sind. Während in L in der Art, wie die Figuren in die gerahmte Fläche verteilt und wie die Stellungen zueinander ausgewogen sind, das antike Vorbild deutlich nachklingt, und in Haltung und Ausdruck der Gesichter die Erregung der Streitenden zu erkennen ist, verflacht die Darstellung in den beiden Abkömmlingen von Stufe zu Stufe; der Wegfall des Rahmens nimmt den Figuren in Be jeden Halt. So ist die schon in B unverstandene und mit dem christlichen Kreuz ausgestattete Kopfbedeckung zu einer Art Heiligenschein umgestaltet worden, das den Fuss einhüllende Riemenwerk der Stiefel ist noch mehr vereinfacht als in B.
  • 3v oben: Krebs (Cancer = Cnc).
    Das in den Proportionen eng an den Leidensis angelehnte Bild eines vom Rücken gesehenen achtfüssigen Krebses lässt in der Art des breiten Farbauftrages (braun, braunrot) die impressionistische Malweise des karolingischen Vorbildes erkennen.
  • 3v unten: Löwe (Leo).
    Die Formen des nach links aufspringenden, mit dünner braunroter Farbe getönten Tieres sind gegenüber L und B ornamentaler behandelt, was besonders an Schnauze und Mähne deutlich wird. Es ist eine selbständige Umbildung im Sinne mittelalterlicher Stilisierung zu erkennen, die möglicherweise durch den Einfluss angelsächsisch-irischer Motive gefördert wurde.
    • [Es fehlt zwischen f. 3 und 4 ein Doppelblatt mit den Bildern von: Fuhrmann (Auriga = Aur); Stier (Taurus = Tau); Cepheus (Cep); Cassiopeia (Cas); Andromeda (And); Pferd (eigtl. Pegasus = Peg); Widder (Aries = Ari), Dreieck (Triangulum = Tri) – vgl. oben Lagen.]
  • 4r oben: Fische (Pisces = Psc).
    Die beiden Fische sind übereinander in südlicher und nördlicher Richtung schwimmend dargestellt, verbunden durch ein S-förmig geschwungenes Band, dessen Enden um ihre Schwänze geschlungen sind. Im Gesamtumriss gleichen die Tiere den Gegenstücken in L und B, jedoch hat in Be auch der untere Fisch nur vier Rückenflossen, mit dem schnabelartig gebildeten Maul hält der obere zwei, der untere ein eiartiges Gebilde; scheinbar geht dies zurück auf die weissen Zähne der prächtigen Mäuler in der Vorlage L, die schon in B weggelassen sind. In der Färbung der Fischhaut, die in braunen, violetten und grünlichen Tönen variiert, ist die Nachwirkung des impressionistischen Vorbildes zu spüren; dagegen ist das Band in dekorativem Sinn in dunkelbraune, rötlichbraune und grauviolette Streifen längsgeteilt. – Die Sterne sind hier und in den folgenden Zeichen weggelassen.
  • 4r unten: Perseus (Per).
    Das Motiv des Schwebens ist in der Reihe der entsprechenden Bilder der Textfamilie L, B und Be stufenweise abgeflaut: Während in L das rechte Bein fast horizontal nach rückwärts weggestreckt ist, stehen in Be die Füsse nahezu auf einer Ebene, sodass eher von einem Laufen, als von einem Fliegen gesprochen werden muss. Mit der Linken senkt die schräg vom Rücken gesehene Figur das Medusenhaupt, dessen Haare das Aussehen von Schlangen, das ihnen noch in L eignet, verloren haben, die erhobene Rechte hält einen am Ende zurückgebogenen gelb getönten Stab hoch, der eher dem Lagobolon des Bootes als der Harke, dem Sichelschwert des Perseus gleicht. Die Tarnhaube, die im gleichaltrigen B noch zu erkennen ist, hat der Maler unterdrückt, die flatternden Haare der perückenartigen Frisur sind an die Stelle der Mützenzipfel getreten. In den Umrissen versteift und im zeichnerisch-plastischen Stil der vorromanischen Kunst angepasst ist der grün kolorierte Mantel wiedergegeben. Die an den Knöcheln hervorwachsenden Flügel haben gegenüber L das Aussehen von Dornen angenommen.
  • 4v oben: Plejaden.
    Der Unterschied zwischen dem Produkt der karolingischen Renaissance und den mittelalterlichen Kopien der Zeit um 1000 wird besonders klar, wenn wir die schönen antiken Frauenköpfe in L, die leicht den Blick wendend aus Wolken auftauchen, vergleichen mit den maskenartigen, von stilisierten Haarwulsten umrahmten ‚Protomen‘ in B und insbesondere in Be. Aus dem räumlichen Zusammenhang des gerahmten Bildes herausgerissen sind sie auf dem zur Verfügung stehenden Feld zusammengedrängt. Beim mittleren Frauenkopf, der ‚sehr klein und dürftigen Glanzes‘ und deshalb verhüllt dargestellt wird, ist das Kopftuch reicher und plastischer gefältelt als in B, der den weichen Fluss des antikisierenden Vorbildes getreu nachzubilden sucht. Vom südwestlichen Stern in L übernehmen beide die Frisur mit dem rollenartigen Aufsatz, gestalten ihn aber um zu einem stoffumwickelten, breitgelegten Haarpolster. Die durch gekreuzte gelbe Bänder und eine Ziernadel zusammengehaltene Haartracht ist nur noch beim untersten Kopf erkennbar; bei den übrigen wird sie umgeformt zu abgeteilten, haarbeutelartig überhängenden Frisuren, wobei der in der Schule von St. Bertin übliche Typus sich stärker geltend macht als das antike Vorbild. In der Wahl der Haarfarbe schaltet der mittelalterliche Künstler frei nach ‚dekorativen‘ Bedürfnissen, er wählt das häufige Braunrot und ein gelb und schwarz gesträhntes Grün.
  • 4v unten: Leier (Lyra = Lyr).
    In der Leidener Handschrift, bildet eine dunkelviolette, schwarz gestreifte Schildkrötenschale das von innen gesehene Gehäuse des Instruments, während die beiden Stäbe aus den Hörnern eines Steinbocks verfertigt sind. In Be ist, ebenso wie in B, anstelle der stofflichen Charakterisierung eine an jene äusserlich sich anlehnende abstrakt-dekorative Behandlung getreten, wobei die verschiedenen im Kodex gebrauchten Farben in unregelmässiger Folge sich ablösen. Am Querjoch, das ebenso wie der Sockel gelb getönt ist (in L golden), war wie bei L eine brettartige Vorrichtung zum Halten und Stimmen der Saiten befestigt: anstelle der Wirbel sind in Be zweimal 14 kreisförmige Löcher (?) eingezeichnet, deren Beziehung zu den 11 Saiten nicht ersichtlich wird. L hat 10 Wirbelpaare und ebenso viele Saiten.
  • 5r oben: Schwan (Cygnus = Cyg).
    Wie bei seinen Vorbildern L und B ist im Bernensis ein Schwan im Augenblick des Auffliegens dargestellt; der Hals ist abwärts gebogen, sodass der Kopf beinahe den linken der halbgeöffneten Flügel berührt. In der Hellrosafärbung lehnt sich Be an das Vorbild an.
  • 5r unten: Wassermann (Aquarius = Aqr).
    Der Maler von Be hält sich ebenso wie der von B streng an L. Ein nur mit phrygischer Mütze, Hosen und weit ausflatternder Chlamys bekleideter Jüngling, giesst, Kopf und Oberkörper zurückdrehend, in stürmischem Ausschreiten nach rechts, Wasser aus der Kanne, die er mit beiden Armen senkrecht nach unten hält; dabei greift er mit dem rechten Arm über den Kopf. Die schöne Bewegung des Ausschreitens, die bei B schon an Kraft eingebüsst hat, ist in Be völlig abgeflaut; der schmale Rand wäre kein Hindernis gewesen, wenn der Maler die Figur kleiner gebildet hätte. Dafür, dass für B wie für Be der antikisierende malerische Stil des Vorbildes L völlig unverständlich war, geben die ungeschickte Schraffierung der Hosen wie die Einteilung der Kanne in rote und gelbe Teile treffende Belege; hinzuweisen ist auf die ornamentale Behandlung des Nabels, die schon beim Jupiterbild begegnet ist.
  • 5v oben: Steinbock (Capricornus = Cap).
    Das Motiv des ruhenden, nach rechts gerichteten Mischwesens, ein Ziegenbock mit einer blattartig gebildeten Schwanzflosse, ist äusserlich getreu von L übernommen. Den Gegensatz zwischen dem zottigen Fell der vorderen Tierhälfte und dem graugrünen Hinterteil des Fisches herauszuarbeiten ist in B mit mehr Erfolg versucht als in Be.
  • 5v unten: Bogenschütze (Sagittarius = Sgr).
    Der nach rechts galoppierende und bogenschiessende Kentaur ist in Be – ebenso wie Jupiter – unbärtig dargestellt. Der Pferdeleib und das vom Wind geblähte Tierfell sind rotgolden; der Maler ist sich nicht mehr bewusst, dass ursprünglich die Enden des Felles, d.h. die in Tatzen endenden Fussteile, um den Hals geschlungen und vorn mit einer Spange befestigt waren.
  • 6r oben: Adler (Aquila = Aql) und Pfeil (Sagitta = Sge).
    Die stolze Haltung des Adlers in L mit dem erhobenen Kopf, den geöffneten Flügeln und aufwärts gebogenen Schwanzfedern ist in Be nicht mehr zu erkennen: der Vogel gleicht hier einem Papagei, das charakteristische hosenartige Gefieder der Beine ist weggefallen. Die Federn sind goldig rot und nur am Bauch zu einem bräunlichen Grau aufgehellt, der Pfeil, den das Tier mit den Krallen hält, ist graugrün getönt.
  • 6r unten: Delphin (Delphinus = Del).
    Wie bei den Fischen kommt das Schillernde des Schuppenkleides im Spiel der auf grau und violett – mit wenig gelb – abgestimmten Töne zum Ausdruck. Die Schwanzflosse ist wie beim Steinbock vegetabil gestaltet; der weisse Kreis im Maul des Tieres ist noch ein Überbleibsel der Sternangaben in L und B. (Glosse: habet in ore stellam).
  • 6v oben: Orion (Ori).
    Die vom Rücken gesehene, prächtige Figur des nach rechts eilenden Jägers in L ist in den beiden Kopien mit allen Einzelheiten übernommen worden, die diese Familie (Z) von anderen unterscheidet. Dagegen ist in Be, wie bei Perseus und Wasermann, die Bewegung erheblich abgeschwächt. Der Kopf ist nicht mehr verkürzt gegeben, sondern von der Seite gesehen; das Tierfell, das ihm als Schild dient, ist grösser und plumper, ebenso wie das zwischen den Beinen auftauchende, vom Globus mitübernommene Häschen (das in L als eigenes Sternbild erscheint), zu dessen Verfolgung er, statt der häufigeren Keule, das Pedum (Lagobolon) führt. Durch die Lage der Sterne bedingt sind der Gürtel und das in der Scheide steckende Schwert, das in den beiden Kopien zeitgenössische Form angenommen hat. Unser Maler hat den Falten des graublauen Rocks (Exomis) durch die Zeichnung und das Aufsetzen weisser Lichter kräftige Form gegeben; dagegen sind Stoff und Bindung der Schuhe, die nicht einmal einander gleichen, ohne Verständnis und Sorgfalt übernommen.
  • 6v unten: Grosser Hund (Canis maior = CMa), mit Stern Sirius.
    Nach links jagender Wolfshund, als Hund des Jägers Orion angesehen, dessen Mähne im Sinne der Entwicklung zum romanischen Stil stärker stilisiert ist als im karolingischen Vorbild. Unserer Familie (Z) ist, wie den Germanicus-Handschriften in Basel und Madrid, die den Kopf umgebende Lichtscheibe gemeinsam, die in Be, im Gegensatz zur weissen Färbung in L, leuchtend gelb koloriert ist. Sie ist von sieben Zacken umgeben, von denen in L weisse Strahlen ausgehen, um die hervorragende Helligkeit des Sterns Sirius anzudeuten. Entsprechend soll die herausgestreckte Zunge, die in B ganz besonders den Eindruck der züngelnden Flamme macht, den Glanz des im Maul des Hundes stehenden Sterns zum Ausdruck bringen. Die Farbe des Tieres ist hellrosa wie die des Löwen.
  • 7r oben: Argo navis (heute Achterdeck = Puppis = Pup).
    Bei L und seinen Abkömmlingen ist, entsprechend der Lage der Sterne, nur die hintere Hälfte des Schiffes dargestellt. Die schön geschwungene Form des Hecks ist von L übernommen, dagegen versteht der Maler von Be, wie vorher bei der Kanne des Wassermanns, nicht mehr, wie dort durch starkes Auflichten des roten Tones die Form gerundet wird, und er hat, statt die malerische Behandlung zu übernehmen, zwischen roter Umrahmung und hellem Innenfeld geschieden. Auf diese ausgesparte Fläche hat er in roter Umrisszeichnung eine weibliche Figur gesetzt; in L erscheint sie in leichter Skizzierung schwebend über den zu ihren Füssen angedeuteten Fluten. Anstelle des klar und subtil ausgearbeiteten Schiffsgeländers ist in Be die Brüstung durch einen grauen Horizontalstreifen angedeutet. Parallel dazu, und eingerahmt von einem hellviolett getönten Rechteck, verläuft der Ruderkasten, in dem schräg nach oben gerichtete, eng gestellte blaue und braunrote Streifen sichtbar werden. In der Richtung entsprechen ihnen die sechs, durch die Schiffswand hindurchgesteckten Ruderstangen und die breiteren und längeren Steuerruder, von denen das hintere durch das Heck teilweise verdeckt ist. Nach den Abbildungen von L und B möchte man annehmen, dass es sich um die oberen Enden der Ruder handelt, wenn auch ihre Zahl dort schon mit 10 bzw. mit 11 angegeben ist. An der Spitze des Mastes, dessen Lage durch 10 (in Be fehlende) Sterne bedingt ist, weht in Be ein fahnenartiges, helloliv getöntes Tuch, das sich durch die plastische Formgebung von den dünnen Wimpeln von L und B unterscheidet. Das in auffallend richtiger Perspektive wiedergegebene Häuschen, das über die Brüstung hervorschaut und wohl eine Kajüte darstellen soll, fehlt in L und B, begegnet aber in der englischen Familie der Handschriften.
  • 7r unten: Seeungeheuer (Cetus = Cet).
    Form und Haltung des ruhenden, den Kopf zurückdrehenden Tieres, das den geringelten Schwanz nach oben streckt, gleicht im Wesentlichen den entsprechenden Bildern in L und B, doch ist der Hals weniger drastisch bewegt. Der rosafarbene Halsstreifen in L wird bei den beiden Kopien zu einem farbig gesprenkelten Band, das in Be recht ungeschickt der Drehung des Halses folgt. Der schiefergraue Tierkörper ist rot, weiss – am Schwanz auch gelb – gestrichelt zur Angabe des Fells. In der Stilisierung der vegetabil aufgefassten Schwanzflosse sind, im Gegensatz zur malerischen Formgebung in L, Beziehungen zur karolingischen und zur gleichzeitigen englischen Blattornamentik spürbar. Man beachte den Kreis am Ansatz der blattartigen Flosse, der bei L und B nicht vorhanden ist, dagegen in der karolingischen Kunst begegnet bei der Darstellung des Seeungeheuers, auf dem Okeanos gelagert ist.
  • 7v oben: Eridanus (Eri).
    Die Handschriftenfamilie (Z) personifiziert das Sternbild als lagernden Flussgott und berührt sich hierin eng mit der gleichzeitigen englischen Bildüberlieferung zum Cicero-Hygin-Text. Der Gott, der das rechte Bein ausstreckt, während er das linke angezogen hat, stützt sich mit dem linken Arm auf die Urne, aus der das Quellwasser hervorströmt; in der gleichen Hand hält er ein Schilfrohr, die Rechte hat er erhoben – eine Gebärde, die bei den Darstellungen des am unteren Bildrand gelagerten Gottes besagt, dass er mit Spannung dem über ihm sich abspielenden Vorgang folgt. Sich sträubenden Haaren vergleichbar, ragen bei Be aus der roten Perücke sechs Schilfblätter hervor, drei Haarsträhnen fallen über die linke Schulter. Wie bei den Bildern des Orion und des Perseus ist das grüne, mit Gelb gehöhte Gewand plastischer behandelt als in L und B, und ähnelt darin der gleichzeitigen englischen Buchmalerei.
  • 7v unten: Südlicher Fisch (Piscis austrinus = PsA).
    Die Zeichnung des auf dem Rücken liegenden, schräg nach links oben gerichteten Fisches lehnt sich auch in der Farbe eng an L an. Hier ist viel vom malerischen Charakter der schillernden, blau und weiss getupften Fischhaut in die Kopie übergegangen.
    • [Es fehlt zwischen f. 7 und 8 ein Blatt mit den Bildern von: Altar (Ara); Centaurus (Cen); Hydra (Hya), Becher (Crater = Crt) und Rabe (Corvus = Crv); Kleiner Hund (Canis minor = CMi); Bildnisse der fünf Planeten (die in L vorkommenden vier Jahreszeiten fehlen auch in B) – vgl. oben Lagen. Der Inhalt der Handschrift B legt zudem nahe, dass in Be vielleicht auf dem noch leeren f. 8r das Planetarium eingetragen werden sollte.]
  • 10v oben: Sonnengott (Sol).
    Da die Bilder von Sonne und Mond in L nicht überliefert sind, bleibt nur das Bilderpaar in B als Vergleichsmöglichkeit übrig; mit ihm stimmt der Bernensis diesmal umso mehr überein, als er die viereckige, beinahe quadratische Form mitübernommen hat. Der Sonnengott, bekleidet mit weissem, zweimal gegürtetem Rock und flatterndem, rotem Mantel, steht von vorn gesehen im zweirädrigen Wagen, dessen halbkreisförmig geschweifte Brüstung die Beine der Figur verdeckt. In der Linken hält er eine gelb getönte Scheibe, die Rechte ist mit gelber Farbe gefüllt, während sie in B ebenso wie der Globus, die Gürtung und die Beschläge des Wagens in Gold ausgeführt ist. Bei den nach links gestellten Rädern fehlen in Be die Speichen; auf Andeutung der Fluten ist verzichtet. Der vorliegende Bildtypus zeigt die vier Schimmelhengste nicht von vorn, sondern die Gruppe ist gleichsam nach beiden Seiten aufgeklappt, indem ein Pferdepaar von links, das andere von rechts im Profil gesehen wird.
  • 10v unten: Mondgöttin (Luna).
    Analog der Darstellung des Sonnengottes könnte man eine frontale Wiedergabe von Luna in ihrem von Rindern gezogenen Wagen erwarten. In den beiden Schwesterhandschriften B und Be wird jedoch das abwärts gerichtete Gefährt von links oben gesehen. Die Göttin, deren Nimbus von der Mondsichel überschnitten wird, steht im kleinen zweirädrigen Karren und ist gekleidet in einen ärmellosen Chiton und einen nicht deutlich sich abhebenden Mantel, der den zusammenhaltenden Knopf der linken Schulter zudeckt und dessen Enden, vom Winde gebläht, nach zwei Seiten flattern. Mit beiden Armen hält sie die nach oben gerichtete, mächtige Fackel. Während diese ebenso wie der Wagen in B goldgehöht ist, wurde in Be gelbe und graue Farbe verwendet; wie im Heliosbild sind der Nimbus und das Joch der Stiere gelb koloriert. Gewand und Karnat der Figur sind, ebenso wie die Tiere, mit trübem Rosa getönt, das ganz summarisch von dunkleren Streifen durchzogen ist – ein Nachklang der ursprünglichen Modellierung in Farbtönen.
  • 11v: Planisphärium (Sternkarte; Durchmesser 23,5 cm).
    Im Bernensis war zunächst offenbar beabsichtigt, die letzte Seite des Codex leer zu lassen; man hat sie benützt zu einer Zeichenübung, indem man mit einem spitzen Stift die Profilfigur eines heraldisch streng stilisierten Löwen oder Panthers ins Pergament eingerissen hat. Dieses kaum sichtbare Tier wird jetzt vom äussersten grünen Kreis des Planisphärs überschnitten. Bei diesem wird der lebhafte farbige Eindruck des Bildes bestimmt durch den Kontrast des Pergamenttones mit einem Kobaltblau, das den innersten Kreis füllt, und mit dem orangeroten Grundton der Ekliptik. Diese beiden Farben, die in diesem Sättigungsgrad nicht bei den übrigen Illustrationen des Gedichts begegnet sind, werden auch zur Kolorierung der Sternbilder verwendet, zusammen mit Goldbraun (Cepheus), Braunrot (vegetabile Schwanzflosse des Cetus, Blattverzierung am Heck der Argo, Skorpion, Krebs, Steinbock), Graugrün und lichtem Blau (Rock des Fuhrmanns und des Bootes).
    Zum Vergleich ist in erster Linie die Handschrift B heranzuziehen, wo das Planisphärium dem Gedicht und seinen Bildern vorangestellt worden ist (f. 20r) – denn die Darstellung des gestirnten Himmels ist in L nicht überliefert. Als Vorlage hat die Sternkarte in der British Library, Harley Ms. 647, f. 21v (H), oder eine entsprechende Darstellung gedient. Alle drei Darstellungen zeigen gleichsam eine Umdrehung der Sternentafel, wie sie aus den übrigen frühmittelalterlichen Beispielen bekannt ist. Da die Figuren in unserer Gruppe von vorn gesehen sind, während sie sonst in der Mehrzahl die Rückansicht bieten, ist angenommen worden, dass in Be und seinen Verwandten das Himmelsgewölbe in Unteransicht dargestellt ist, während die andere Fassung – z.B. der Basler Germanicus – die Bilder so zeigt, wie das von aussen gesehene Himmelsgewölbe auf den Globen ursprünglich sie dargeboten hat.
    Die Lage der Beischriften zu den einzelnen Sternbildern im Harleianus zeigt schon erhebliche Abweichungen von der Beschreibung des Aratus. Noch ungenauer verfährt der Illustrator von Be: die einzelnen Sternbilder werden mehr oder weniger denen von H nachgebildet und unterscheiden sich entsprechend von den Illustrationen der einzelnen Beschreibungen. Besonders deutlich wird die Anlehnung bei den Bildern des Bootes, des Orion (in blauem Rock und rotem Mantel), des Perseus und des Eridanus, der als nackte Halbfigur, von vorn gesehen, in der Hüftgegend überschnitten wird von den Wassermengen, die bandartig geformt, aus der umgeleerten Urne sich ergiessen. Wieder äussert sich in der üppigen Frisur und der Bartlosigkeit (vgl. Jupiter und Sol) eine Eigenart des Bernensis. Von H übernommen, wenn auch durch Unfähigkeit oder Missverständnis entstellt, sind der in hellblauem Rock gekleidete Fuhrmann, dessen Beine, dem Raum sich anpassend, zurückgebogen sind, die Figur des Cepheus, bei dem die phrygische Mütze weggeblieben ist, die gefesselte, kaum mehr als Frau erkennbare Andromeda; die sitzende, in H mit dem Peplos bekleidete Cassiopeia ist zu einem unverständlichen Wesen zusammengeschrumpft. Beim nackten Herakles ist das graugrüne Löwenfell nicht mehr erkennbar, die Keule durch das Lagobolon ersetzt. Die Zwillinge sind im Gegensatz zur Gruppe von Amphion und Zetos als Dioskuren personifiziert, doch fehlt beim Rechten der Speer. Bei den Fischen ist die verbindende Schnur, beim Widder der Reif weggelassen worden, beim Kentaur fehlt die Waffe. Ebenfalls übernommen, aber völlig formlos ist das Bild des Altars; bis zur Unkenntlichkeit verändert ist das graugrün kolorierte Zeichen des Schwans, bei den Hunden fehlt die Differenzierung nach Grösse. Unbeeinflusst von H ist hingegen das Bild des Steinbocks, der dort mit Fischleib dargestellt ist: hier wirkt offenbar die von den Einzelbildern vertretene Tradition nach. Dagegen entfernt sich der Maler des Planisphärs von beiden Fassungen, wenn er die Jungfrau ohne Flügel und Stab, nur mit zwei Ähren wiedergibt, und den Wassermann, gleich dem Perseus, nur mit einer Chlamys bekleidet; wie in H findet das Wasser, das er ausgiesst, den Weg ins Maul des Grossen Fisches. Eine Eigentümlichkeit unseres Planisphärs besteht in den vegetabilen Enden verschiedener Sternbilder (Argo, Cetus, Delphin); diese Art von Blattornamentik ist charakteristisch für die Schule von St. Bertin.
    Offenbar also ist das Planisphärium nicht vom selben Maler ausgeführt, der die Phainomena illustriert hat. Die Art, wie der Hauptmeister, mit breiten, schwerflüssigen Konturen, die zumeist von einer hellen Linie begleitet werden, nach antiker Art bewegte Gewänder wiedergibt, erklärt sich daraus, dass die Bilder der beiden eng verwandten Handschriften B und Be kopiert worden sind nach einer karolingischen Vorlage (L), die ihrerseits auf ein römisch-hellenistisches Vorbild, wohl des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts zurückgegriffen hat. Charakteristisch für den Wandel in der Formauffassung, die von der karolingischen zur ‚ottonischen‘ Kunst geführt hat, ist die Art, wie der Mönch von St. Bertin, dem wir wohl die Sternbilder in beiden Handschriften zuschreiben dürfen, die mit breitem malerischen Pinselstrich geformten Sternzeichen von L in seinen etwas trockenen plastisch-zeichnerischen Stil übersetzt hat. In der Schule von St. Bertin sind trotz gleichartiger Prägung der Typen und Ornamentmotive voneinander divergierende Stile vertreten: mehr oder weniger ist bei einigen Künstlern der Einfluss der zu gleicher Zeit jenseits des Kanals blühenden Malschulen zu spüren. Im Gegensatz zur englischen Vorliebe für bewegte oder skizzenhaft lockere Zeichnung sind dagegen im Planisphärium des Bernensis die wenig bewegten Figuren vor ruhigen Konturen knapp umrissen und mit gleichmässig deckender Farbe koloriert.
Spätere Ergänzungen: 1r Titelnotiz Claudii Caesaris Arati Phaenomena von M. Wilds Hand (?); in der Mitte doppelter schwarzer Rundstempel Bibliotheca Bernensis, 42 mm (um 1700), oben rechts Ms. 88. Weiterer Bibliotheksstempel (20. Jh.) im vorderen Spiegel.
Bemerkungen zum Inhalt von einer Hand des 15. Jh.: 6v sequitur fulget et verte duo folia; 7v sequitur signorum partes; 9v verte folium.
Einband: Bern, um 1800. Mit braunem Sprenkelpapier überzogene Pappdeckel (38 x 29 cm), Rücken aus hellem Pergament. Buchblock auf 5 Hanfbünde geheftet, ohne Kapitalen. Rückentitel verblasst, unten modernes Signaturschild Cod. 88. Je 1 Vorsatz- und Nachsatzblatt (I; II) mit Berner Wasserzeichen.
Inhaltsangabe:
  • 1. Germanicus: Aratea
    Editionen:
    • Bischoff, Bernhard (et al.): Kommentar zu den Aratea des Germanicus, Ms. Voss. Lat. Q. 79, Bibliotheek der Rijksuniversiteit Leiden. Luzern 1989.
    • Gain, David Bruce: The Aratus ascribed to Germanicus Caesar. London 1976.
    • Le Boeuffle, André: Germanicus. Les phénomènes d'Aratos. Paris 1975.
    • Breysig, Alfred: Germanici Caesaris Aratea cum scholiis. Berlin 1867.
    1v11v Germanicus: Aratea; Avienus: Prognostica
    • (1r) Titelnotiz, sonst leer
    • (1v3v) Germanicus: Aratea, Vv. 1–156. >Claudii Caesaris Arati Phoenomena. Ab Iove principium magno deduxit Aratus, C<arminis …–… >E<xcipiantque sinus zephiris spirantibus auras.
      [Lücke von 1 Doppelblatt, s. oben Buchschmuck]
    • (4r7v) Germanicus: Aratea, Vv. 241–386. >Hunc ultra gemini Pisces, quorum alter in austros T<endit …–… >S<ic tenuis cunctis iam paene evanuit ardor.
      [Lücke von 1 Blatt, s. oben Buchschmuck]
    • (8r) leer
    • (8va10ra) Germanicus: Aratea, Vv. 446–725. >Signorum partes, quorum [est] praedicta figura, A<nnum …–… >S<ignificent, ventosve truces fidamve quietem.
    • (10rava) Germanicus: Aratea, Frg. III, Vv. 1–28. >G<randine permixtus Aries nivibusque caducis …–… >E<t rigor accedit ventis. Mitissimus ille
    • (10va) Germanicus: Aratea, Frg. II, Vv. 1–16. >Una via est solis bis senis lucida signis. A<c …–… >M<ercurius, binos Gradivus perficit orbis.
    • (10va11rb) Avienus: Prognostica, Vv. 1741–1878 [mit Lücken]. >T<empore tum proprio modulatur noctua carmen …–… >P<luribus indiciis sollers fulcire memento. Schlussvers: >V<ale fidens (in) Domino Christi vestitus amore.
      Bischoff 1989, S. 94–157; Gain 1976, S. 21–46; Le Boeuffle 1975, S. 1–48; Breysig 1867, S. 1–44.
    • (11v) Planisphärium, sonst leer
    1v7v Scholia Bernensia.
    Editionen:
    • Breysig, Alfred: Germanici Caesaris Aratea cum scholiis. Berlin 1867.
    • Maass, Ernst: Commentariorum in Aratum reliquiae. Berlin 1898.
    • PL: Migne, Jacques-Paul (Hg.): Venerabilis Bedae Anglosaxonis presbyteri … Opera omnia. (Paris 1850) [= Patrologiae cursus completus ... Series Latina Bd. 90].
    1v7v Scholia Bernensia.
    (1v) >H<elix Arcturus maior. Habet autem in capite stellas obscuras VII …–… Leo habet stellas sunt omnes XIII. [Lücke in Be]. (4r) Pisces. Aquilonius habet stellas XII …–… Piscis Magnus, qui et Auster dicitur ipsae autem clariores esse noscuntur.
    Breysig 1867, S. 233–238 [z.T. in anderer Reihenfolge]; Maass 1898, S. 582–592; PL 90, 945B–946C, 947B–948B.
    Bemerkung zum Inhalt:
    Der Text gehört der Familie Z an, es fehlen im Bernensis (Be) die Verse 157–240 und 394–445 (Lücken zwischen f. 3/4 und 7/8); hinzugefügt sind die sogenannten Fragmente III und II sowie einige Verse aus Avienus. Die Scholien, die von der gleichen Hand auf der Aussenseite der Blätter eingetragen worden sind, begegnen nur im Bernensis.
Provenienz der Handschrift:
  • Laut einer Widmung (11. Jh.) auf f. 1v ist das Buch von Bischof Werner von Strassburg (1001–1028) dem Münster zu Strassburg geschenkt worden: Werinharius episcopus dedit sanctae Marie ecclesiae argentinensis. Im 1508 erschienenen Katalog der Strassburger Bischöfe von Jakob Wimpfeling wird die Handschrift zusammen mit Cod. 87 als eines der Bücher Bischof Werners aufgeführt; vgl. Argentinensium Episcoporum Cathalogus, hier S. XXVII: Proprietates et dispositiones signorum caeli. Im 16. oder 17. Jh. wurde das Faszikel mit den Aratea wieder von Cod. 87 getrennt.
  • Aufgrund der Erwähnung in Hortins Katalog stammt die Handschrift aus dem Besitz von Jacques Bongars (sein Namenszug fehlt jedoch). Bongars Vorbesitz erweist sich auch aus der Tatsache, dass er die Scholien der ersten Lage und den Text der zweiten Lage eigenhändig exzerpiert hat (Cod. 492, f. 203r–205v bzw. Cod. 148, f. 147r–152r). Durch die Schenkung von Jakob Graviseth 1632 in die Berner Bibliothek gelangt.
Kataloge:
  • Hortin, Samuel: Clavis bibliothecae Bongarsianae MDCXXXIIII. Bern 1634 [= BBB Cod. A 5], S. 47: [Sign.] XV.3: Arati phaenomena, f[ol.]. Cum picturis.
  • Wild, Marquard: Catalogus Librorum Bibliothecae Civicae Bernensis MDCIIIC. Bern 1697 [= BBB Cod. A 4], f. 48v: 88. Cl[audii] Caesaris Arati phaenomena, f[ol.].
  • Engel, Samuel: Manuscripta A[nno] 1740. Bern 1740 [= BBB Mss.h.h. III 110], f. 22r: 88. Claudii Caesaris Arati phaenomena, s. 8°, m[embr.]; f. 72r: 88. Phaenomena Claudii Caesaris Arati, cum lit[teris] pictis et figuris, s. 8°, m[embr.].
  • Sinner, Johann Rudolf: Catalogus codicum mss. bibliothecae Bernensis, Bd. 1. Bern 1760, S. 278–282.
  • Hagen, Hermann: Catalogus Codicum Bernensium. Bern 1875, S. 108.
  • Homburger, Otto: Die illustrierten Handschriften der Burgerbibliothek Bern. Bd. 2. Bern, um 1960 [unpubliziertes Typoskript].
  • Pellegrin, Élisabeth: Notices de manuscrits (contenant de textes classiques latins de la Bibliothèque de la Bourgeoisie de Berne). Bern, um 1960 [unpubliziertes Typoskript].
Literatur zur Handschrift (Auswahl):
  • Bischoff, Bernhard (et al.): Kommentar zu den Aratea des Germanicus, Ms. Voss. Lat. Q. 79, Bibliotheek der Rijksuniversiteit Leiden. Luzern 1989, hier S. 13, 34–41, 45–48, 51–53, 58, 60–61, 73–74, 90.
  • Blume, Dieter (et al.): Sternbilder des Mittelalters. Der gemalte Himmel zwischen Wissenschaft und Phantasie. Berlin 2012, hier S. 214–218 (Nr. 8).
  • Le Boeuffle, André: Germanicus. Les phénomènes d'Aratos. Paris 1975, hier S. XLIII, XLVII.
  • Breysig, Alfred: Germanici Caesaris Aratea cum scholiis. Berlin 1867, hier S. XVII–XVIII.
  • Gain, David Bruce: The Aratus ascribed to Germanicus Caesar. London 1976, hier S. 1–2.
  • Maass, Ernst: Commentariorum in Aratum reliquiae. Berlin 1898, hier S. 572.
  • Soubiran, Jean: Aviénus: Les Phénomènes d'Aratos. Paris 1981, hier S. 84–85.
Literatur (Auswahl):
  • Blume, Dieter (et al.): Sternbilder des Mittelalters. Der gemalte Himmel zwischen Wissenschaft und Phantasie. Berlin 2012, hier S. 114–115, 214–218; Abb. 95–112.
  • Le Bourdèlles, Henri: L’ Aratus Latinus: étude sur la culture et la langue latines dans le Nord de la France au VIIIe siècle. Lille 1985, hier S. 15, 83.
  • Breysig, Alfred: Die Germanicushandschriften und ihre Eintheilung, in: Hermes 17 (1882), S. 401–407.
  • Byvanck, Alexander Willem: De Platen in de Aratea van Hugo de Groot. Amsterdam 1949, hier S. 215.
  • Dahms, Rudolf: Ad Germanicum Caesarem, in: Jahrbücher für Classische Philologie 15 (1869), S. 269–275.
  • Dekker, Elly: Illustrating the phaenomena. Celestial cartography in antiquity and the Middle Ages. Oxford 2012, hier S. 233–235.
  • Duits, Rembrandt: Celestial Transmissions. An iconographical classification of constellation cycles in manuscripts (8th–15th centuries), in: Scriptorium 59,2 (2005), S. 147–202, hier S. 184.
  • Haffner, Mechthild: Ein antiker Sternbilderzyklus und seine Tradierung in Handschriften vom frühen Mittelalter bis zum Humanismus. Untersuchungen zu den Illustrationen der "Aratea" des Germanicus. Hildesheim/ Zürich 1997.
  • Homburger, Otto: Über die kunstgeschichtliche Bedeutung der Handschriften der Burgerbibliothek, in: Schätze der Burgerbibliothek Bern. Bern 1953, hier S. 116–118.
  • Jones, Charles Williams: Bedae Pseudepigrapha. Scientific writings falsely attributed to Bede. Ithaca (NY) 1939, hier S. 87.
  • Mütherich, Florentine / Koehler, Wilhelm (Hgg.): Die karolingischen Miniaturen, Bd. 4,2: Die Hofschule Kaiser Lothars; Einzelhandschriften aus Lotharingen. Textband. Berlin 1971, hier S. 81, 108.
  • Krämer, Sigrid: Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters. Bd. 2. Köln – Zyfflich. München 1989, hier S. 743.
  • Lehmann, Paul: Johannes Sichardus und die von ihm benutzten Bibliotheken und Handschriften, in: Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters. München 1911, hier S. 181.
  • Lesne, Emile: Les livres. Scriptoria et Bibliothèques du commencement du 8e à la fin du 11e siècle. Lille 1938, hier S. 704.
  • Lott, Elisabeth S.: The textual tradition of the "Aratea", in: Revue d' Histoire des Textes 11 (1981), S. 147–158.
  • Manitius, Max: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. 1. Teil: Von Justinian bis zur Mitte des zehnten Jahrhunderts [=HdAW 9,2,1]. München 1911, hier S. 26, 28.
  • Martin, Jean: Histoire du texte des phénomènes d’Aratos. Paris 1956.
  • Munk Olsen, Birger: L’étude des auteurs classiques latins aux 11e et 12e siècles. Paris 1982–89, hier Bd. 1, S. 406; Bd. 3,1, S. 222, 250.
  • Orelli, Johann Caspar: Phaedri … fabulae Aesopi … accedunt Germanici Caesaris Aratea e Cod. Basil. Bern. Einsiedl. emendata et suppleta. Zürich 1832, S. 137–211.
  • Rahn, Johann Rudolf: Geschichte der bildenden Künste in der Schweiz. Von den ältesten Zeiten bis zum Schlusse des Mittelalters. Zürich 1876, hier S. 793–794.
  • Reeve, Michael D.: Some Astronomical Manuscripts, in: Classical Quarterly 30 (1980), S. 508–522.
  • Reudenbach, Bruno: Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Bd. 1: Karolingische und ottonische Kunst. München 2009, hier S. 181, 549.
  • Reynolds, Leighton Durham [et al.]: Texts and transmission: a survey of Latin classics. Oxford 1983, hier S. 20.
  • Stückelberger, Alfred: Der gestirnte Himmel. Zum ptolemäischen Weltbild, in: Marschkies, Christoph (Hg.): Atlas der Weltbilder. Berlin 2011, hier S. 42–46.
  • Stückelberger, Alfred: Sterngloben und Sternkarten. Zur wissenschaftlichen Bedeutung des Leidener Aratus, in: Museum Helveticum 47 (1990), S. 70–81.
  • Thiele, Georg: De antiquorum libris pictis capita quattuor. Marburg 1897, hier S. 2–3.
  • Thiele, Georg. Antike Himmelsbilder. Berlin 1898, hier S. 83–84.
  • Verkerk, Cornelis L.: Aratea: a review of the literature concerning MS. Vossianus lat. q. 79 in Leiden University Library, in: Journal of Medieval History 6 (1980), S. 245–287, hier S. 266–270.
  • Weitzmann, Kurt: Illustrations in Roll and Codex. A study of the origin and method of text. Princeton 1970, hier S. 166.
  • Winterfeld, Paul von: De Germanici Codicibus, in: Festschrift Johannes Vahlen. Berlin 1900, S. 391–407.
Externe Ressourcen: